Konzerte Saison 1980-1981

  • 11.11.1980
  • 20:15
  • 55.Saison
  • Zyklus B
Stadtcasino, Hans Huber-Saal

Brandis-Quartett (Berlin)

Henry Purcell galt bereits zu Lebzeiten als führender englischer Komponist und erhielt den Ehrentitel «Orpheus Britannicus». Die meisten seiner Werke sind vokal: Hymnen, Anthems, Oden, Lieder und Bühnenwerke; neben der Oper «Dido and Aeneas» (1689) stehen Mischformen wie Semi-Operas (King Arthur, The Fairy Queen) und Masques. Absolute Instrumentalmusik dagegen ist eher selten. Es sind vor allem Kammermusikwerke wie die Sonata’s of III parts (1683) und in four parts (erschienen 1697) sowie die 1678 bis 1680 komponierten drei- und vierstimmigen Fantazias für Gambenensemble. In dieses Umfeld gehört auch die berühmte Chacony in g-moll. Genau datierbar sind die neun vierstimmigen Fantasien, welche zwischen dem 10. Juni und 31. August 1680 entstanden sind, deren Stimmen sich leicht auf ein heutiges Streichquartett übertragen lassen. Entstanden ist die oft als «Fancy» bezeichnete Gattung im England des ausgehenden 16. Jahrhunderts als Übertragung vokaler Motetten auf Streichinstrumente. Daraus entwickelte sich instrumentale Kammermusik. Purcells Fantasien sind aber bereits die letzten Vertreter, da sich auch in England die Sonaten mit Basso continuo durchsetzten.
Das F-dur-Werk op. 77/2 ist Haydns letztes vollendetes Streichquartett, obwohl auch das Opus 77 als Sechser- oder zumindest Dreierserie geplant war. Es ist dem Fürsten Lobkowitz, dem Förderer Beethovens und anderer Musiker, gewidmet und wurde zusammen mit dem Schwesterwerk in G-dur am 13. Oktober 1799 (also fast auf den Tag genau vor 204 Jahren!) im Palais des Fürsten Esterházy in Eisenstadt erstmals aufgeführt. Wenn Donald Tovey das Quartett als „vielleicht Haydns grösstes Instrumentalwerk neben zwei der letzten Sinfonien“ bezeichnet hat, so hatte er die thematische Arbeit im Auge, die in der Durchführung des Kopfsatzes einen Höhe-punkt findet. Es ist erstaunlich, wie Haydn den ganzen Satz aus den Motiven des Hauptthemas entwickelt. Als ob er diese „Schwerarbeit“ mildern wollte, vereinfacht er die Reprise gegenüber der Exposition. Das Menuett, ein Scherzo, lässt an Beethovens gleichzeitig entstehendes und ebenfalls Lobkowitz gewidmetes op. 18 denken. Das D-dur-Andante ist ein Variationensatz - und was für einer! Das Marschthema mit dynamischer Steigerung erfährt figurale Umspielungen und wird durch freie Zwischenspiele weitergeführt. Der Satz endet nicht mit einer raschen Steigerung des Themas, sondern verklingt ernst im pianissimo. Das Finale weist drei Themen auf; sie sind aber wieder aus einem entwickelt. Sie sind rhythmisch prägnant; eines ist sogar à la polacca bezeichnet. Kontrapunktik und Schwung verbinden sich so zu stets überraschender Wirkung.
Im Februar und März 1824 war Schubert in einer Art Schaffensrausch «unmenschlich fleissig» (Schwind). Neben dem am 1. März beendeten Oktett kündigt er drei Streichquartette an. Nur das a-moll-Quartett erlebt am 24. März seine Uraufführung und erscheint im Druck. Doch auch das d-moll-Werk muss damals entstanden sein, wird aber erst 1826 geprobt (Schubert nimmt dabei noch Korrekturen vor) und am 1. Februar erstmals aufgeführt. Hat Schubert das düstere Werk – alle vier Sätze stehen in Moll – wegen seiner Kühnheit zurückbehalten? Denn was er im Harmonischen und mehr noch im Ausdruck erreicht, ist selbst im Vergleich mit Beethovens Spätwerk neuartig. Schon in der Wahl der Variationenvorlage ist Todesnähe erkennbar. Das Todesmotiv tritt in Verbindung mit dem für Schubert so typischen Wanderrhythmus des Daktylus: lang-kurz-kurz. Der Tod kommt als Wanderer, Verkörperung von Fremdsein und Ausgeschlossensein (Denken wir an den wandernden Müllerburschen und an den Wanderer der Winterreise!), daher. Im Lied sanft und friedlich (Bin Freund und komme nicht zu strafen...), lange nicht so traurig wie der Leiermann am Ende der Winterreise, zeigen einige Variationen seine gewalttätige Macht. Noch gewaltsamer ist sein Auftritt in der Reiterhektik des Finale, wo plötzlich des Knaben Frage Siehst Vater du den Erlkönig nicht? aufscheint. So endet das Quartett in einer Art Totentanz und erreicht eine existenzielle Ausdruckskraft, die um 1824/26 ebenso schauerlich wirken musste wie die Lieder der Winterreise.