Konzerte Saison 1939-1940

  • 13.10.1939
  • 20:15
  • 14.Saison
Stadtcasino, Hans Huber-Saal

Basler Streichquartett [1926-1947] (Basel)

Man kann sich mit Recht fragen, welches Streichquartett des 19. Jahrhunderts wohl das kühnste gewesen sein mag, Beethovens opus 130 (in der Urfassung mit der Grossen Fuge) oder das von den Juilliards 1986 gespielte 131. Entscheiden wir uns heute aufgrund des Programms für op. 130/133. So lässt sich die Entwicklung im Rahmen der «Wiener Klassik» in den 37 Jahren von Mozarts KV 575 zu Beethovens Spätwerk einigermassen ermessen. Der schrieb im Auftrag des russischen Fürsten Galitzin das B-dur-Quartett als drittes nach op. 127 und 132, hat aber im Gegensatz zum op. 59 für den Grafen Rasumowsky keinen Bezug zu russischer Musik gesucht. Mit den Opera 131 und 132 bildet es eine weitere Trias, nicht nur was die Kühnheit betrifft: Sie sind durch ein wandelbares, von einem steigenden und fallenden Intervall gebildeten Viertonmotiv verbunden. Im B-dur-Quartett tritt es am deutlichsten mit zwei kleinen Sekundschritten (G – Gis – f – e) als Beginn des ersten Fugenthemas auf. In den drei Werken wird zudem die Vierzahl der Sätze überschritten. Opus 130 umfasst deren sechs (op. 132 hat fünf, op. 131 sieben), denn Beethoven verdoppelt in komplementärer Weise den Tanzsatz (scherzohaftes Presto und beschwingt heitere Danza tedesca, die kürzesten Sätze) sowie den langsamen Satz: leichtes (Spielanweisung: poco scherzando), doch höchst kunstvolles Andante und tiefsinnig-expressive Cavatina. Der Kopfsatz mit langsamer Einleitung entspricht äusserlich der üblichen Satzform, greift aber mehrfach den Adagio-Teil wieder auf. Ein Fugenfinale – man denke an Haydns op. 20 oder an Beethovens eigenes op. 59/3 – ist nichts Ungewöhnliches. Auch dass bei beiden Auftragsserien, dem op. 59 für Rasumowsky und der neuen Galitzins, eine Fuge das letzte der jeweils drei Quartette beschliesst, ist kaum Zufall. Aber da ist diese Grosse Fuge! Sie irritierte bei der ersten Aufführung durch das Schuppanzigh-Quartett am 21. März 1826 am meisten: «Den Sinn des fugirten Finale wagt Ref. nicht zu deuten: für ihn war es unverständlich, wie Chinesisch», hiess es in der «Allgemeinen Musikalischen Zeitung». Die Sätze 1, 3 und 5 konnte «Ref.» immerhin halbwegs goutieren, mochte er sie auch als «ernst, düster, mystisch, wohl auch mitunter bizarr, schroff und capriciös» bezeichnen. Das «Scherzo und der Deutsche» kamen bei Publikum und Kritiker bezeichnenderweise gut an, so dass «mit stürmischem Beyfall die Wiederholung verlangt wurde». Beethoven hat im November 1826 auf Wunsch des Verlegers Artaria die als tantôt libre, tantôt recherchée bezeichnete Grande Fugue durch ein konventionelleres Allegro in Sonatenform, seine letzte Komposition, ersetzt und die Fuge gesondert dem Erzherzog Rudolf, dem Widmungsträger vieler ungewöhnlicher Werke, zugeeignet. Was macht das Aussergewöhnliche aus? Zunächst die Länge. Zusammen mit der das Thema in vier Varianten exponierenden Overtura dauert es eine gute Viertelstunde und ist einer der längsten Quartettsätze Beethovens. Zudem handelt es sich nicht um eine Fuge oder Doppelfuge, sondern um eine Reihe von Einzelfugen, welche in ihrer Abfolge eine Art freier Sonatensatzform ergeben. Die «Exposition» (rund 200 Takte) umfasst zwei Doppelfugen in B-dur und Ges-dur; die erste beginnt mit der extremen, sprunghaften Form der vierten Themenvariante. Hinzu kommt die Art der Themen. Sie sind zwar gut zu erkennen: Variante 1 etwa an ihren Sekundschritten, Variante 4 an ihren Dezimensprüngen und dem punktierten Rhythmus. Doch ihre «moderne», nicht unbedingt melodiöse Gestalt und das ständige Ineinanderübergehen von Varianten und Verarbeitungen machen ein Verfolgen des Ablaufs schwierig. Dazu kommen harmonische Kühnheiten und klangliche Extreme, nicht nur im Dynamischen. Beethoven äusserte sich einmal: «Eine Fuge zu machen ist keine Kunst. Aber die Phantasie will auch ihr Recht behaupten, heut’ zu Tage muss in die althergebrachte Form ein anderes, ein wirklich poetisches Element kommen.» Die Auffassung Beethovens vom «poetischen Element» und die der ersten Hörer der Grossen Fuge war aber wohl doch verschieden – ja, es soll sogar heute noch Hörer geben, welche von diesem Stück schockiert sind.
Warum hat Schuberts grösstes Quartett nicht die Beliebtheit der beiden anderen späten Quartette erreicht? Ist es das Fehlen des populären Beinamens? Gibt es kein beliebtes Thema, das man auf Anhieb wiedererkennt? Ist es die Länge? Oder ist es die Zerrissenheit, die man so lange beim «Schwammerl» Schubert nicht hat in ihrer Bedeutung wahrnehmen wollen, weil sie dem Bild vom «eigentlich schubertschen» Schubert, dem Liedersänger und Melodienerfinder widersprach? In nur elf Tagen, fast gleichzeitig mit Beethovens Abschluss des op. 131 (im letzten Konzert zu hören) entstanden und jenem gleichrangig, stellt es nicht nur einen Gipfel der Quartettkunst dar, sondern gehört zum Schwierigsten – in der Ausführung wie im Erfassen. Kein populäres Liedthema, keine behäbige Biedermeierseligkeit täuscht über die Ansprüche hinweg. In geradezu sinfonischen Zügen werden im Kopfsatz dramatische, in unruhigem Tremolo aufbrausende Blöcke mit lyrisch kantablen verzahnt, als eine Art «einander ablösender Varianten. Variierte Reihung kennzeichnet auch den zweiten Satz, dessen ausgedehnt singende Cello-Melodien wohl Beruhigung, gar Frieden auszustrahlen vermöchten, wäre ihnen nicht der Affekt der Ruhelosigkeit in den Oberstimmenfiguren beigegeben» (Arnold Feil). Dazu kommt generell das Provokative, welches in verschiedenen Details erkennbar wird, das aber immer Teil des gestalterischen Willens, nicht Unvermögen darstellt. Ein leicht erkennbares sind die genannten immer wieder auftretenden Tremoli. Sie sind mehr als nur eine Form klanglicher Gestaltung, enthalten sie doch ein wichtiges emotionales Potential. Sie haben zudem die Tendenz, die Tonalität zu verschleiern – kein Wunder, dass sie in der Spätromantik so beliebt sind. Dass sich Schubert im Kopfsatz, aber auch im Finale nicht für Dur oder Moll entscheiden kann bzw. will, hat die Hörer ebenfalls irritiert, obwohl es sich dabei um ein typisches Stilmittel Schuberts handelt. Gerade diese angebliche Unentschiedenheit, die sich in den thematisch nicht immer leicht fassbaren Tremoli und im Verunklaren der Tonart äussert, trägt dazu bei, dass das Werk eben nicht so formal klar abläuft wie ein Haydn-Quartett. Dadurch verliert man irgendwie das Zeitgefühl, und dieser Verlust führt auch zu den von Schumann in der grossen C-dur-Sinfonie festgestellten «himmlischen Längen». Schubert hat – wie in dieser Sinfonie, im Streichquintett und in den letzten Klaviersonaten – im G-dur-Quartett, das ausdrücklich keine Sinfonie sein will, mit modernsten und ganz eigenen Mitteln nicht nur zur grossen Form gefunden, sondern in den Ein- und Ausbrüchen auch Grenzen erreicht, an die er ebenso in der Lyrik der Winterreise oder in Heines Atlas («unendlich glücklich oder unendlich elend») gestossen ist.

Ludwig van Beethoven 1770-1827

Streichquartett Nr. 13, B-dur, op. 130, mit der ursprünglichen Schlussfuge op. 133 anstelle des nachkomponierten Rondos (1825)
Adagio ma non troppo – Allegro
Presto
Andante con moto, ma non troppo
Alla danza tedesca: Allegro assai
Cavatina: Adagio molto espressivo
Overtura: Allegro – Meno mosso e moderato –
Fuga: Allegro – Meno mosso e moderato – Allegro molto e con brio

Franz Schubert 1797-1828

Streichquartett Nr. 15, G-dur, op. post. 161, D 887 (1826)
Allegro molto moderato
Andante un poco mosso
Scherzo. Allegro vivace – Trio: Allegretto
Allegro assai