Konzerte Saison 1940-1941

  • 12.11.1940
  • 20:15
  • 15.Saison
Stadtcasino, Festsaal

Basler Streichquartett [1926-1947] (Basel)

Mit Beethovens Opus 18 steht die Komposition von Streichquartetten im Moment eines entscheidenden Wandels. Es ist kein Zufall, dass dies genau im Zeitpunkt der Jahrhundertwende geschah: Die Klassik eines Haydn und Mozart, die noch vor nicht allzu langer Zeit im Gewande des Rokoko daher gekommen war, neigte sich ihrem Ende zu, eine neue Klassik, die sich mit romantischen Elementen verbinden sollte, stand am Horizont. 1797 hatte Haydn die Quartette op. 76 komponiert und sie 1799 veröffentlicht; in diesem Jahr entstand auch das unvollständige op. 77. Zur gleichen Zeit arbeitete Beethoven erstmals an Streichquartetten. Zuvor oder gleichzeitig hatte er sich in erstaunlicher Weise fast allen Kammermusikgattungen gewidmet und folgende Werke einer Opuszahl, d.h. der Veröffentlichung gewürdigt: Klaviertrios (op.1; um 1794), Klaviersonaten (op. 2, 7, 10, 13 und 14; 1795-99), Streichquintett (op. 4 nach einem früheren Bläseroktett), Cellosonaten (op. 5; 1796), Streichtrios (op.3, 8 und 9; 1798), Violinsonaten (op.12; 1797), Klavierquintett mit Bläsern (op.16; 1796), Hornsonate (op. 17; 1800). Jetzt war die Zeit reif, fühlte er sich reif für die Komposition und Veröffentlichung von Quartetten - kurz danach sollte die 1. Sinfonie folgen.

Natürlich wurzeln die sechs Quartette noch im 18. Jahrhundert und berufen sich auf Haydn und Mozart. Noch einmal taucht auch jene Sechserzahl für ein Opus auf, die für Haydn die Regel gewesen war. Sie zeigen aber auch die Suche nach dem eigenen Stil. (...)

Im Jahre 1800, nach Abschluss aller sechs Quartette, überarbeitete Beethoven die Nummern 1 bis 3 grundlegend. (...) Die zuerst entstandene Nr. 3 wirkt freundlich-melodiös und endet mit einem Finale in virtuoser Entladung von Spielfreude, schliesst aber ganz überraschend-witzig im Pianissimo. Hier ist Haydn ganz nah. (...)

1810 hatte Beethoven sein op. 95, das letzte der mittleren Streichquartette, vollendet. Es sollte zwölf Jahre dauern, bis er sich wieder mit Quartetten befasste – und das zunächst, ohne dass er ein solches vollendete. Am 9. November 1822 bat ihn Fürst Nikolaus Galitzin, für ihn «un, deux ou trois nouveaux Quatuors» zu schreiben. Die Anfrage kam Beethoven nicht ungelegen, hatte er doch bereits am 5. Juni 1822 dem Verlag Peters ein Quartett in Aussicht gestellt, das spätere op. 127 (es wird in unserem nächsten Konzert zu hören sein). Er widerrief jedoch dieses Angebot, «da mir etwas anderes dazwischen gekommen». Das «etwas» waren die Missa solemnis und die 9. Sinfonie. So nahm er erst im Februar 1824 die Arbeit am Quartett wieder auf und schloss es ein Jahr später ab. Deshalb dauerte es zuletzt fünfzehn Jahre, bis wieder ein Quartett vollendet war. Noch während dieser Arbeit – wohl im Herbst 1824 – konzipierte Beethoven die Quartette op. 132 und op. 130. Sie wurden ebenfalls dem Fürsten Galitzin gewidmet.

Der erste Satz von op. 132 beginnt mit einer Einleitung, welche ausgehend vom Cello jenes Viertonmotiv in je einem auf- und absteigenden Halbtonschritt (gis–a/f–e; in der 1. Violine dis–e/c–h) einführt, das als Klammer die drei grossen der späten Quartette verbindet. Schon das Hauptthema des Kopfsatzes nimmt es in seiner Mitte auf und auch im Finalthema erscheint es, wenn auch versteckt, wieder. Der 2. Satz, ein recht umfangreiches, mehrheitlich freundliches Scherzo, steht in A-dur; sein Trio kommt zuerst klanglich apart à la musette, später mit einem girlandenartigen, harmonisch ständig changierenden Motiv daher. Der langsame Satz bildet das Zentrum und die Hauptaussage des Werkes. Nicht nur die Länge, auch die religiös gefärbte Umschreibung der Satzbedeutung hebt diesen einmaligen Satz aus den andern hervor. Der «Dankgesang» ist trotz seiner «himmlischen Längen» im Grunde einfach gebaut: Er beginnt mit einer choralartigen Melodie in F-dur ohne ♭ (darum «in der lydischen Tonart») ruhig. Ihre Phrasen folgen einander jeweils halbtaktig im 4-stimmigen Satz. Dieser Choralteil wird von einem leichteren Andante in D-dur abgelöst, das mit «Neue Kraft fühlend» überschrieben ist und mit kurzen Notenwerten von Zweiunddreissigsteln ein rasches Tempo vortäuscht. Es nimmt im weiteren Verlauf geradezu tänzerische Züge an. Diese beiden Abschnitte werden wiederholt, wobei der Choral variiert wird, während das Andante weitgehend unverändert bleibt. Eine 3. Choralstrophe führt «mit innigster Empfindung» den Satz gleichsam in Rondoform zu Ende.

Der erstmalige Versuch, die Satzzahl über die gewohnten vier auszuweiten, mag im Vergleich mit dem sechssätzigen op. 130 und mit den sieben Sätzen von op. 131 noch unentschlossen wirken. Ein kurzer Geschwindmarsch (24 Takte in zwei jeweils zu wiederholenden Teilen) und die folgende rezitativartige Überleitung (22 Takte) wirken beinahe wie eine Art Einleitung zum Schlusssatz. Doch die Aufgabe, das Molto Adagio ins Zentrum des Werks zu rücken, erfüllt dieser Quasi-Satz sehr wohl. Das Finale mit einem zunächst expressiv sehnsüchtigen Thema ist eine Art Verbindung von Sonatensatz und Rondo. Der Satz sucht aber auch Grenzen, die mit Passagen in höchster Lage und mit einem Presto-Schluss in einen dem «Dankgesang» konträren Charakter umschlagen.

Mit dem Opus 59 beginnt das moderne Streichquartett. Hatten das erste und etwas weniger das zweite Quartett damals schockierend gewirkt, so erscheint das dritte weniger gewagt. Die Allgemeine Musikalische Zeitung von 1806/07 bezeichnete es als „allgemeinfasslich“. Es ist das kürzeste und konzentrierteste der drei Schwesterwerke und bildet gleichsam die Synthese der beiden vorangegangenen Werke. Gleichwohl zeigt es die modernen Errungenschaften der Quartettkomposition. Mag die Wiederaufnahme einer langsamen Einleitung zunächst als Rückgriff auf die Tradition erscheinen, so bildet gemäss A. Werner-Jensen die Art, wie dies hier geschieht, mehr einen Traditionsbruch als eine Fortführung gewohnter Formen. Erstaunlich ist zudem, dass nach dieser Einleitung am Beginn des Allegro noch eine weitere folgt. Das Hauptthema kommt erst später nach einer überleitenden Violinkadenz mit einem C-dur-Akkord zum Zug. Die Durchführung verwendet nicht nur die drei Gedanken der Exposition, sondern auch die Septakkorde der Einleitung und die Violinkadenz. Im Gegensatz zu den beiden ersten Quartetten zitiert Beethoven in diesem Werk kein thème russe, doch klingt das Thema des Andante (a-moll) irgendwie russisch. Das als grazioso bezeichnete Menuett wirkt wie ein Spiel mit vergangenen Formen; dafür fährt das Trio in F-dur energisch dazwischen. Nach diesen zahlreichen Eigenheiten überrascht auch das virtuose, attacca an das Menuett anschliessende Finale, eine Verbindung von Sonatensatz und Fuge. Gerade diese nicht regelkonforme Fuge hat es in sich und hat Beethoven nicht wenig Kritik eingetragen, beweist aber auch die Kühnheit und Modernität dieses heute so klassisch wirkenden Werkes. Mit der „Grossen Fuge“ am Ende von op. 130 wird Beethoven auf viel gewagtere Weise im Spätwerk auf eine solche „unregelmässige“ Fuge (tantôt libre, tantôt recherchée) zurückgreifen. Die drei Werke des Opus 59 sind in der Reihenfolge der Nummerierung entstanden, das C-dur-Quartett ist also tatsächlich das Abschlussstück. Dies ist ein weiterer Hinweis auf die zyklische Gestaltung der Werkgruppe.

Ludwig van Beethoven 1770-1827

Streichquartett Nr. 3, D-dur, op. 18, Nr. 3 (1798/1800)
Allegro
Andante con moto
Allegro – Minore – Maggiore
Presto
Streichquartett Nr. 15, a-moll, op. 132 (1825)
Assai sostenuto – Allegro
Allegro, ma non tanto
Heiliger Dankgesang eines Genesenen, in der lydischen Tonart: Molto adagio –
Neue Kraft fühlend: Andante –
Mit innigster Empfindung: Molto adagio
Alla Marcia, assai vivace – Più allegro – Allegro appassionato – Presto
Streichquartett Nr. 9, C-dur, op. 59, Nr. 3 «3. Rasumovsky-Quartett» (1806 ?)
Introduzione: Andante con moto – Allegro vivace
Andante con moto quasi allegretto
Menuetto (grazioso) mit Trio –
Allegro molto