Konzerte Saison 1945-1946

  • 5.3.1946
  • 20:00
  • 20.Saison
Stadtcasino, Festsaal

Basler Streichquartett [1926-1947] (Basel) Johannes Kuyken, Viola

Die Wege zur ersten Sinfonie und zum ersten gültigen Streichquartett waren bei Brahms lang und führten über mehrere Vor- und Zwischenstufen. Der Weg zum Streichquartett war wohl verschlungener – doch endeten beide schliesslich erfolgreich in einem c-moll-Werk. Wie viele Streichquartette Brahms komponiert hat, weiss man nicht. Drei sind bekannt und Kammermusikfreunden wohlvertraut. Vor diesen hat es eine grössere Anzahl weiterer Quartette gegeben. Schumann berichtet in seinem begeisterten Artikel über den jungen Brahms nach dessen Besuch in Düsseldorf 1853, jener habe ihm in «ganz geniale(m) Spiel, das aus dem Klavier ein Orchester ... machte» neben anderem auch «Quartette für Saiteninstrumente – und jedes so abweichend vom andern, dass sie jedes verschiedenen Quellen zu entströmen schienen» vorgespielt. Im selben Jahr wollte Brahms ein Quartett in h-moll als erstes Werk veröffentlichen – schliesslich wurde eine Sonate für sein eigenes Instrument das Opus 1. Und an seinen Jugendfreund und Mitschüler August Alwin Cranz (1834-1923), den Sohn eines Hamburger Musikverlegers, schrieb er, er habe «bereits über 20 Quartette komponiert». Bis zur Fertigstellung und Veröffentlichung der ersten gültigen Quartette sollten aber zwanzig Jahre vergehen. Was vorangegangen war, wurde vernichtet. Zwischenstufen bildeten Klavierquartette, Streichsextette und das Streichquintett mit zwei Celli von 1862, das später zur Sonate für 2 Klaviere und zuletzt zum Klavierquintett wurde. Und als die beiden Quartette des op. 51 1873 endlich zur Geburt reif waren, bedurfte es, wie Brahms scherzhaft anmerkte, für die «Zangengeburt» des Chirurgen. Ihm, dem Freund Theodor Billroth (1829-1894; 1860-67 Professor in Zürich, dann in Wien), sind sie denn auch gewidmet, obwohl für das zweite ursprünglich Joseph Joachim vorgesehen war. Da Skizzen zum op. 51 bis in die Zeit um 1865 zurückgehen, verstehen wir den Scherz von Brahms. Im c-moll-Quartett überraschen ein neuer Klang und Verdichtung, stellenweise geradezu spröde Verschlossenheit, strenger Ernst und eine fast monothematische Substanz. Ludwig Finscher charakterisiert die Sätze mit «dra­matisch zerklüftet» (Kopf­satz), «melancholisch» (Romanze in As-dur), «nachdenklich-ver­sponnen» (Allegretto-Intermezzo in f-moll anstelle eines Scherzos) und «emotionale Hochspannung» (Fi­nale). Trotz letztlich traditionsbewusster Bezugnahme – nicht nur in der Erwartungen weckenden Tonart – auf das Vorbild Beethoven brachte die Uraufführung am 11. Dezember 1873 in Wien durch das Hellmesberger Quartett vorerst nur einen Achtungserfolg ein. Die konsequente und komplexe Kompositionsmethode zeigt sich im Entwickeln des Materials aus wenigen Kernmotiven – was Schönberg später «entwickelnde Variation» nannte, hauptsächlich an den Quartetten op. 51 darlegte und als fortschrittlich bewunderte. So war Brahms sehr wohl ein moderner Komponist und nicht, was das Publikum damals vielleicht lieber gehört hätte, ausschliesslich ein Bewahrer klassischer Vorgaben.
Mit dem G-dur-Quintett glaubte der 57-jährige Brahms sein kompositorisches Schaffen für abgeschlossen (an Verleger Simrock: „Mit diesem Brief können Sie sich von meiner Musik verabschieden, denn es ist sicherlich Zeit zu gehen.“), doch dann lernte er den Klarinettisten Richard Mühlfeld kennen, was einen neuen Schaffensschub auslöste. Ist das Quintett somit ein todesnaher Schlussgesang? Keineswegs! Das im Sommer 1890 in Bad Ischl entstandene Quintett ist, wie schon die Tonart G-dur vermuten lässt, neben zupackenden Passagen durchaus heiter, wenn auch meist nur in Gegenüberstellung zu Ernstem. Brahms arbeitet häufig mit dem gleichsam konstituierenden Element der Klanglichkeit. Schon der Beginn zeigt es: Die beiden Geigen und Bratschen legen mit ihren meist in Terzen abwechselnden Sechzehnteln – sie ergeben den G-dur-Akkord – einen Klangteppich, aus dem heraus das Cello das Thema hervortreten lässt. (Das erinnert entfernt an Bruckners „Vorhang“-Technik am Beginn seiner Sinfoniensätze.) Das zweite, von der Bratsche eingeführte Thema ist eine (dem Prater abgelauschte?) Art behaglichen Walzers. Mit den für Brahms so typischen entwickelnden Variationen, die Schönberg („Brahms der Fortschrittliche“) bewundert hat, wird die Exposition zu Ende geführt. Die Durchführung beruht zwar auf dem Hauptthema, wird aber von vielfältigen Motiven, z.B. den Sechzehntelterzen des Beginns, umspielt und raffiniert kontrapunktisch durchgestaltet. Auch das Adagio (d-moll) lebt von der Technik der entwickelnden Variation, die über übliches Variieren hinausgeht. Die 1. Bratsche führt das romanzenhafte, leicht traurige Thema ein, das selber verschiedene Varianten erfährt. Anstelle des Scherzos steht ein zurückhaltenderes, wiegendes Intermezzo in g-moll mit einem lieblichen Trio in G-dur. Die sanfte Stimmung dieses Satzes passt gut zum Adagio. Im Finale lässt Brahms einen ungarischen Tanz in der Art eines Csárdás los, zu dem es nichts zu sagen gibt, ausser dass auch er kunstvoll kontrapunktisch gearbeitet ist. Erstaunlich, dass dieses eigentlich dritte Streichquintett wie das verlorene „erste“ (mit 2 Celli), welches dann zum Klavierquintett umgearbeitet wurde, kritische Bemerkungen von Joseph Joachim hervorgerufen hat.

Johannes Brahms 1833-1897

Streichquartett Nr. 1, c-moll, op. 51, Nr. 1 (1873)
Allegro
Romanze: Poco adagio
Allegretto molto moderato e comodo – Un poco più animato
Finale: Allegro
Streichquintett Nr. 2, G-dur, op. 111 (1890)
Allegro non troppo, ma con brio
Adagio
Un poco allegretto
Vivace, ma non troppo presto