Konzerte Saison 1974-1975

  • 5.11.1974
  • 20:15
  • 49.Saison
  • Zyklus A
Stadtcasino, Festsaal

Quartetto Italiano (Mailand)

Die Tonart d-moll gibt Mozart immer Anlass zu besonderer Intensität, so auch hier. Im Sotto voce-Einsatz wird zuerst die Erregung zurückgedrängt, doch kommt sie bald im Forte zum Ausbruch, und auch die Bewegung steigert sich ständig. Die Schönheit des Andante bringt Beruhigung; es ist aber kleingliedrig und von Pausen durchbrochen. Die Schroffheit des Menuetts kippt im Trio in fast unwirkliche Eleganz und Leichtigkeit, so als hätten wir es mit einer Serenade zu tun. Das Finale orientiert sich zwar an Haydns Finalthema aus op. 33/5, aber Mozarts d-moll ist weit entfernt von Haydns G-dur-Leichtigkeit. - -

Das d-moll-Quartett weist im typisch mozartschem Mollcharakter voller Erregung und in dunkler Klangsprache - wozu im Kopfsatz Intervallsprünge und herbe Dissonanzen treten - Neuartiges auf. Im Menuett kontrastiert die dunkle Färbung mit dem heiteren Serenadenton des Trios. Das Variationen-Finale greift sowohl im Siciliano-Rhythmus wie in der Melodik unüberhörbar auf Haydn selbst zurück: auf seine Finalvariationen in op. 33/5, werden aber harmonisch und modulatorisch neu gedeutet.

1932, zwanzig Jahre nach der Entstehung, sagte Webern über seine Sechs Bagatellen: „Ungefähr 1911 habe ich die ‚Bagatellen für Streichquartett’ (op. 9) geschrieben, lauter kurze Stücke, die zwei Minuten dauern; vielleicht das Kürzeste, das es in der Musik bisher gegeben hat. Ich habe dabei das Gefühl gehabt: Wenn die zwölf Töne abgelaufen sind, ist das Stück zu Ende. Viel später bin ich daraufgekommen, dass das alles im Zuge der notwendigen Entwicklung war. Ich habe in meinem Skizzenbuch die chromatische Skala aufgeschrieben und in ihr einzelne Töne abgestrichen. - Warum? - Weil ich mich überzeugt hatte: der Ton war schon da. - [...] Mit einem Wort: es bildete sich eine Gesetzmässigkeit heraus: Bevor nicht alle zwölf Töne drangekommen sind, darf keiner von ihnen wiederkommen. Das Wichtigste ist, dass das Stück - der Gedanke - das Thema durch die einmalige Abwicklung der zwölf Töne einen Einschnitt bekommen hat.“ Schönberg veröffentlichte die Zwölftontheorie allerdings erst 1923, doch wollte Webern offensichtlich im Rückblick seinen eigenen Anteil daran nachweisen. Entscheidend ist die Abkehr vom romantischen Klangbild hin zu einer neuen, herben Klanglichkeit und kompromisslos verknappten Form, die sich von klassischen Prinzipien abwendet.
Schubert waren in der Jugend Sinfonien und Streichquartette für den Schul- bzw. Hausgebrauch leicht aus der Feder geflossen. Dabei handelte es sich meist um eher «leichte» Werke, denen es zwar nicht an Ernst fehlte, die aber doch mehr als Spielmusik denn als tiefgründige Einzelwerke zu gelten haben. Was ihm im Liedschaffen damals immer wieder gelungen ist, fehlte im Instrumentalen noch weitgehend. Erst ab 1820 zeigte sich auch im Instrumentalen eine überraschende Entwicklung. Nun treten auf einmal in den Gattungen Streichquartett und Sinfonie Werke hervor, deren Anspruch und Klangbild neuartig sind. Gemeinsam ist ihnen, dass sie alle nicht zu Ende geführt wurden. Drei betreffen die Sinfonie: 1820 oder später, 1821 und 1822 (die «Unvollendete»). Der wohl früheste gescheiterte Versuch von 1820 ist ein c-moll-Streichquartett, von dem der überraschende Kopfsatz ganz und 41 Takte eines weniger gewichtigen Andante in As-dur vorliegen. Jener ist der bekannte «Quartettsatz». Hier tritt die packende Stimmung, wie sie für den späten Schubert typisch wird, erstmals richtig auf. Die Tremoli sind keine Verlegenheit, sondern gestalten bewusst das Unheimliche und die Unruhe. Das lyrische Seitenthema in As-dur bietet mit seiner Sanglichkeit den Gegenpol, ohne ins Beliebige abzugleiten. Das Stück endet in der Unruhe des Beginns. Schubert fand damals keine gültige Fortsetzung. Der Quartettsatz ist zehn Jahre nach Beethovens «Serioso»-Quartett, einem denkbaren Vorbild, entstanden.
Beethovens letzte vollendete vollständige Komposition ist das Quartett op. 135. Es entstand im Sommer und im Frühherbst 1826 in zwei Schaffensphasen. Nach den drei monumentalen Werken op. 130, 131 und 132 wirkt es wie eine Rückkehr zu Tradition und Gewohntem, gerade auch in der Rückkehr zur traditionellen Viersätzigkeit. Man glaubt sich, wie bei der 8. Sinfonie (1809 bis 1812), ebenfalls in F-dur, zeitweise, wenn auch nur scheinbar, in Haydns Welt zurückversetzt. Trotz der grösseren Zugänglichkeit und trotz der Kürze ist op. 135 ein echtes spätes Beethoven-Quartett mit überraschenden Brüchen und Wechseln. Schon der Beginn des Sonatensatzes mit dem kurzen Bratschenmotiv, auf welches die anderen Instrumente reagieren, ist raffiniert, wirkt aber natürlich und leicht. Das wieder von fünf auf drei Teile reduzierte Scherzo ist wohl der modernste Satz. Höhepunkt des Werkes ist das nur 54 Takte lange Lento assai in Des-dur. Erst mit der Zeit wird einem bewusst, dass es sich um einen Variationensatz mit vier bezeichnenderweise nicht speziell gekennzeichneten Variationen über ein zehntaktiges Thema handelt. Ein wahrer Abgesang, der in der Stimmung, vor allem in der Schlussvariation mit dem Verklingen im pianissimo zu den Schlüssen langsamer Bruckner-Sätze (8. oder 9. Sinfonie) hinführt. Beethoven hat offenbar zunächst nur drei Sätze geplant, sich aber vom Verleger Schlesinger zu vier «verführen» lassen. Hat nicht da das rätselhafte «Muss es sein?» und die Allegro-Antwort «Es muss sein!» der damals ungewohnten Einleitung zum Finale seine Ursache? Dass sich Beethoven hier einen Scherz erlaubt hat, ist wenig wahrscheinlich. Man hat behauptet, der nachkomponierte Satz sei das Lento – dann aber wäre ein Zusammenhang mit dem «Muss es sein?» unmöglich. Peter Gülke (vgl. Konzertvorschau 11. März 2013) plädiert dafür, es sei der 4. Satz gewesen – und in diesem Fall wäre die Einleitung genial und erst noch biographisch wie musikalisch begründet. Das Motiv der Frage (Muss es sein?) und die Antwort (Es muss sein!) stehen sich konträr gegenüber: Zuerst folgt auf eine fallende Terz eine aufsteigende Quart, in der Antwort ist es umgekehrt. Auch rhythmisch und im Tempo ist das Motiv, dem Sprachlichen angeglichen, verändert: Frage (Grave) lang – kurz – lang, Antwort (Allegro alla breve) kurz – lang – lang. Aus der Antwortversion des Motivs entwickelt Beethoven den Gang des Allegro; sie ist bis zum Schluss bestimmend, auch wenn die Frageversion nochmals auftaucht. Gülke verweist auf einen Parallelfall: Hatte nicht bei der letzten Klaviersonate op. 111 (1821/22) der gleiche Verleger nach der Arietta (Adagio molto) mit ihren allerdings umfangreicheren Variationen ein Finale erwartet, dort aber nicht erhalten? Warum aber Beethoven beim letzten Quartett dem Drängen Schlesingers nachgegeben hat, ist kein Rätsel – der Grund war das Geld!

Wolfgang Amadeus Mozart 1756-1791

Streichquartett Nr. 15, d-moll, KV 421 (417b) (1783)
Allegro (moderato)
Andante
Menuetto: Allegretto – Trio
Allegretto, ma non troppo (con variazioni)

Anton Webern 1883-1945

Sechs Bagatellen für Streichquartett, op. 9 (1911/13)
Mässig
Leicht bewegt
Ziemlich fliessend
Sehr langsam
Äusserst langsam
Fliessend

Franz Schubert 1797-1828

Streichquartett Nr. 12, c-moll, op. post., D 703 «Quartettsatz» (1820)
Allegro assai

Ludwig van Beethoven 1770-1827

Streichquartett Nr. 16, F-dur, op. 135 (1826)
Allegretto
Vivace
Lento assai e cantante tranquillo
Der schwer gefasste Entschluss: «Muss es sein?» Grave, ma non troppo tratto –
«Es muss sein!» Allegro