Konzerte Saison 2001-2002

  • 20.11.2001
  • 19:30
  • 76.Saison
  • Zyklus A
Messe Basel, Paul Sacher-Saal, Halle 1

Europäischer Musikmonat 2001

Arditti Quartet (London)

Das Arditti Quartet geniesst weltweit Anerkennung für seine inspirierten, engagierten und technisch perfekten Interpretationen zeitgenössischer und Musik des frühen 20. Jahrhunderts. Mehrere hundert Streichquartette sind seit seiner Gründung 1974 für das Arditti Quartet geschrieben worden. Viele dieser Werke gehören inzwischen zum Standardrepertoire der Neuen Musik. Das Ensemble pflegt intensive Zusammenarbeit mit zeitgenössischen Komponisten, in der Überzeugung, dass solche engen Kontakte für die Erarbeitung von deren Werken notwendig und hilfreich sind. –Das Arditti Quartet hat über 100 CDs eingespielt und ist mit zahlreichen Preisen für seine Arbeit ausgezeichnet worden.
György Kurtag

Der 1926 in Rumänien geborene Pianist und Komponist studierte u.a. bei Sandor Veress und später in Paris bei Olivier Messiaen und Darius Milhaud. Der Aufenthalt in Paris, der ihn mit den Kompositionstechniken der Zweiten Wiener Schule und später mit Musik von Karlheinz Stockhausen vertraut machte, hat seine kompositorischen Ideen nachhaltig geprägt. In Kurtags Werkverzeichnis finden sich vor allem kurze Stücke in kleiner Besetzung; viele von ihnen sind für Singstimme geschrieben. Noch heute ist Kurtag, der von 1967 bis zu seiner Pensionierung 1986 Professor für Klavier und Kammermusik an der Musikhochschule in Budapest war, als Lehrer tätig.

«Mikroludien» op. 13

Der vollständige Titel lautet «Hommage à Mihaly Andras. 12 Microludes für Streichquartett, Op. 13». Der Zyklus besteht aus zwölf Sätzen. Das zugrundeliegende formale Prinzip ist dasselbe wie in «Jaketok» («Spiele») für Klavier: Jeder der zwölf Sätze baut sich auf einem der zwölf temperierten Halbtöne in aufsteigender Anordnung auf. So wird der Rahmen gebildet, den vierzehn Zeilen eines Sonnetts vergleichbar; der Unterschied besteht darin, dass in diesem Fall die Anzahl der «Silben» nicht feststeht: Das Paradoxon dieser strengen Form ist jedoch ein vergleichbares: Genauso, wie es unzulässig ist, irgendein Wort in eine 15. Zeile weiterzuschieben, darf unter keinen Umständen ein dreizehnter Satz folgen. Und wie die Endreime der Zeilen sich nach den Reimmustern richten, weiss man hier ganz genau, welcher Ton als nächstes folgen wird. Wenn aber die Sätze untereinander eine Beziehung aufweisen, dann ist diese Reihe nicht nur mechanisch, lediglich eine Tonleiter – sie stellt ein Ordnungsprinzip dar.

René Wohlhauser

René Wohlhauser, 1954 in Zürich geboren, wuchs in Brienz auf. Langjährige Erfahrungen sammelte er als Rock- und Jazzmusiker und als Komponist von Hörspielmusik. 1975–1979 studierte er an der Musikhochschule Basel bei Thomas Kessler, Robert Suter, Jacques Wildberger und Jürg Wyttenbach. Dazu besuchte er weitere Kurse in Elektronischer Musik, Filmmusik, Aussereuropäischer Musik und Dirigieren sowie in Philosophie bei Hans Saner. Er machte sein Lehrdiplom als Musiktheorielehrer, absolvierte verschiedene Kompositionskurse bei Maurico Kagel, Heinz Holliger, Klaus Huber und Brian Ferneyhough. – Seine Werke hatten zahlreiche Aufführungen im In- und Ausland. Wohlhauser war Gastdozent für Komposition an den Internationalen Ferienkursen Darmstadt (1988-1994), Odessa (1996-1998) und in Lugano (2000). Seit 1979 unterrichtet er Musiktheorie und Komposition an der Musikakademie Basel.

«carpe diem in beschleunigter Zeit» (1998/1999) UA

Zwischen und während mehrerer Spitalaufenthalte habe ich vom Herbst 1998 bis zum Herbst 1999 an einem Streichquartett gearbeitet, das in gewissem Sinne diese Situation der knapp werdenden Zeit reflektiert, so dass die verbleibende Zeit eine gewisse dynamische Beschleunigung erfuhr. Diese findet ihren Ausdruck in einer mehrfach ansetzenden, asynchronen Beschleunigung von mehreren, sich überlagernden Zeitschichten bis in den Grenzbereich des Noch-Spielbaren, immer wieder unterbrochen von kleinen spiegelförmigen Einschüben, die – wie ein Innehalten – das Konzept der Beschleunigung aus einer andern Sichtweise, von einem andern Seinszustand her reflektieren. – Der Sinnspruch des Horaz (Oden I 11,8), der als Krönung epikuräischer Weisheit angesehen wird, erhält eine ironische Bedeutung angesichts des heutigen gesellschaftlichen Lebens, das vielfach von ökonomischem Streben vorangetrieben wird und unter «Nutze den Tag» nur eine quantitative Auslastung im Sinne von «Zeit ist Geld» versteht. Dadurch relativiert sich der Sinn der verknappten Zeit selbst und öffnet sich für eine andere Auslegung, die der Hektik eine Konzentration auf den Augenblick, auf das Hier und Jetzt entgegensetzt und dadurch zur Essenz der Aussage zurückfindet (wo infolgedessen plötzlich sehr viel Zeit zur Verfügung steht). Musikalisch findet dies im Bestreben seinen Ausdruck, innerhalb einer begrenzten Zeit ein Höchstmass an ausdifferenzierter Substanz zu verdichten, die ab einer gewissen Beschleunigung in eine andere Qualität umkippt.

René Wohlhauser

Matthias Pintscher

Matthias Pintscher, 1971 geboren, erhielt eine instrumentale Ausbildung am Klavier, am Schlagzeug und auf der Violine, ausserdem Dirigierunterricht. Er studierte bei Giselher Klebe Komposition an der Hochschule für Musik in Detmold. 1990 wurde er von Hans Werner Henze nach Montepulciano zu den Cantiere Internazionale d’Arte eingeladen. 1992–1994 nahm Pintscher Kompositionsunterricht bei Manfred Trojahn an der Robert-Schumann-Hochschule in Düsseldorf. – Besondere Aufmerksamkeit ist Pintscher u.a. durch seine Oper «Thomas Chatterton» (1998) sowie mit dem Werk «Hérodiade Fragmente» zuteil geworden, das die Berliner Philharmoniker 1999 zur Uraufführung brachten. In den letzten Jahren haben zahlreiche Aufführungen mit Werken Pintschers durch renommierteste Klangensemble stattgefunden. – Bis 2002 ist Pintscher Composer in Residence des Cleveland Orchestra. – Auch als Dirigent hat Pintscher eine internationale Karriere gemacht: So dirigierte er unter anderem das Cleveland Orchestra, das Deutsche Sinfonie-Orchester Berlin, die Staatskapelle Berlin, das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart, das Ensemble Modern, das Klangforum Wien und das Scharoun-Ensemble Berlin.

Streichquartett Nr. 4 «Ritratto di Gesualdo» (1992)

Don Carlo Gesualdo – il Principe di Venosa (1561–1613) – war eine der schillerndsten Gestalten der ausgehenden Renaissance. Seine hochexpressive Musik schlägt den Hörer unmittelbar in Bann – die Umrisse seines rastlosen und aufbrausenden Lebens regen zur Auseinandersetzung an. Mein 4. Streichquartett ist zugleich klingendes Psychogramm und Metamorphose von Gesualdos Madrigal «Sospirava il mio core» aus dem 3. Buch der Madrigale:

«Sospirava il mio core

Per uscir di dolore

Un sospir che dicea: ’L’anima spiro!’

Quando la Donna mia più d’un sospiro

Anch’ella sospirò che parea dire:

‘Non morir, non morire!’»

Ich habe versucht, in Gesualdos Klanggestalten weiterzudenken, Gesten und Seufzer weiterzuführen und Affekte soweit zu erhöhen, dass sie einer Illustration vom Umschlagen sehnlicher Erwartung in Verdunklung und Abgewandtheit gerecht werden. Die Musik bezieht ihre Spannung aus in dichter Folge ablaufenden Zuständen schrill verzückter Ekstase und verzehrter Betäubung. Stimmführungen und Intervallfolgen in Gesualdos Partitur werden imitiert, verdichtet oder in grosse Bögen gespannt, harmonische Wendungen werden farblich changiert oder deren Kontur in gleissender Transparenz vereinzelt stehen gelassen.

Matthias Pintscher

Liza Lim

«Hell» für Streichquartett (1992)

«Hell»: was es auf englisch bedeutet (Hölle)

und auch auf deutsch;

Hellseher – einer, der das zweite Gesicht hat

hellhörig – mit gesteigertem Wahrnehmungsvermögen ausgestattet.

In den frühen 80er Jahren drehte sich der Kompositionsprozess bei mir um die physische Komponente einer Aufführung: die Beziehungen, die es zwischen dem Körper des Musikers und seinem Instrument gibt. In «Hell» versucht die Musik, immer differenzierter in die klanglichen Zwischenräume einzudringen, die aus dem Kontakt zwischen Fingerspitze und Saite, körperlicher Druckausübung und Geschwindigkeit über das Schwingen von Rosshaar und Holz übertragen werden, und diese hörbar zu machen. Dabei wird das Klangverhalten in Aktionskonstellationen umkomponiert. Ein nichthomogener Ansatz beim Spiel eines Streichinstruments unterstreicht die vorübergehenden, fragilen und unbezweckten Klänge wie Flageoletttöne, Verzerrungen und Kratzgeräusche. – «Hell» ist kein Streichquartett in der klassischen Dialogtradition. Es gibt keine Lösung zum Schluss; stattdessen könnte man eine Analogie mit jenen chinesischen Kästen sehen, die man in alle Richtungen hin- und herdreht, ohne jemals hineinzukommen, und bei denen die «Lösungen» sich als Illusion entpuppen, die sich einer Realisierung entziehen.

Liza Lim

Wolfgang Rihm

10. Streichquartett (1997)

Noch immer hängt scheinbar das Damoklesschwert der Erklärungsbedürftigkeit über der Musik. Dabei wechselt die Musik stets den Platz; und sollte das Schwert herabsausen, trifft es garantiert den Falschen, genauer: das Falsche. Aber vielleicht hat soeben ein gordischer Knoten Platz genommen… – Die einzigen Einführungen, die für die Musik etwas bewirken (im positiven wie im negativen Sinn), sind die Ohren der Hörer. Aus purer Freiheitsliebe plädiere ich für äusserst unterschiedliche Ohren. An jedem Kopf sollten mindestens zwei völlig verschiedene Zugänge zu mindestens zwei völlig verschiedenen Hörweisen installiert sein. Geht das? – Aber man sollte auch hierbei keine Normen festsetzen. Jeder hört sowieso, was er kann. Ein Komponist, der das Hören für seine Musik erst erfinden muss, ist arm dran, aber unermesslich reich.

Wolfgang Rihm

Dieses Konzert wird von Schweizer Radio DRS2 aufgezeichnet und zu einem späteren Zeitpunkt gesendet.