Hanspeter Kyburz wurde als Sohn von Schweizer Eltern in Lagos (Nigeria) geboren. Er studierte in Graz, Berlin (neben Komposition auch Philosophie, Kunstgeschichte sowie Musikwissenschaft bei Carl Dahlhaus) und Frankfurt bei Hans Zender. Seit 1997 ist er Professor für Komposition an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin. Er war Leiter des Elektronischen Studios der Musikhochschule Basel. Nachdem er bereits früher einen Kompositionsauftrag des Lucerne Festivals erhalten hatte (Noesis, auch im Eröffnungskonzert des Basler Musikmonats 2001 unter Pierre Boulez aufgeführt), wird sein jüngstes Werk, ein Auftrag der Roche Commissions, am 2. September 2006 vom Cleveland Orchestra unter Franz Welser-Möst in Luzern seine Uraufführung erfahren. Das bisher einzige Streichquartett erlebte seine erste Aufführung im September 2004 in Berlin durch das Quatuor Diotima. Es ist «eine Reflexion über die Möglichkeiten und Grenzen der Gattung und zugleich der Versuch, Struktur sinnlich erfahrbar und die unterschiedlichen Formen des Zusammenspiels künstlerisch fruchtbar zu machen» (Martin Demmler im Programmheft der Berliner Philharmonie zum Konzert des Arditti Quartet am 3.11.2005). Das Werk entwickelt in jedem der vier Teile neue und gegensätzliche Klangfarben, die sich intensivieren und verdichten. So wird etwa am Schluss die in Tempo und Dichte gesteigerte Hektik plötzlich aufgelöst und endet gleichsam im Nichts.
Das 5. Streichquartett von Pascal Dusapin war bereits am 3. November 2005 im Programm des Arditti Quartet in Berlin Nachbar des Quartetts von Kyburz. Das Arditti Quartet hat das Auftragswerk der Berliner Philharmoniker (gemeinsam mit Muziekgebouw aan’t IJ, Amsterdam, und Cité de La Musique, Paris) am 15. Juni 2005 in Amsterdam auch zur Uraufführung gebracht. Der in Nancy geborene Dusapin war Schüler von Messiaen und vor allem von Iannis Xenakis. Für seine Kompositionen greift er gerne auf literarische Werke zurück, besonders auf Samuel Beckett. Hier ist es dessen Roman Mercier et Camier, aus dem folgende Passage dem Quartett vorangestellt ist: «Ach ja, sagt Camier. Unsere Devise sei die Langsamkeit mit Ausreissern nach links und rechts und brüske Rückwärtswendungen, den finsteren Strahlen der Eingebung folgend. Wo fangen wir an? sagt Camier. Wir fangen an, antwortet Mercier.» Noch mehrfach zitiert ihn Dusapin im Verlauf der Partitur, so zur Coda des gesamten Werkes, das mit einem Rückgriff auf den Schluss des ersten Teils endet, mit folgendem Passus: «Wonach suchen wir eigentlich? fragt Mercier. Nach einer seltsamen Form. Was für eine seltsame Form? Ich weiss es nicht, aber das wird uns noch sehr beschäftigen.» Im ersten Teil dominiert der Gesang der ersten Violine. Später wird das Tempo rascher und es kommt zu heftigen Ausbrüchen, bevor über einer gleichmässigen Bewegung der zweiten Violine die erste wieder auf die Lyrik des ersten Abschnitts zurückgreift. Die Fortsetzung verläuft allerdings anders: Nachdem alle Stimmen die Sechzehntelbewegung der zweiten Violine aufgenommen haben, kommt es vor der genannten Coda zu einem schattenhaften Intermezzo (Text in Anlehnung an Martin Demmer).
Luca Francesconi wurde am 17. März 1956 in Mailand geboren, wird also in vier Tagen seinen fünfzigsten Geburtstag feiern. Er studierte in Mailand, später in Boston, Rom (mit Karlheinz Stockhausen) und Tanglewood (bei Luciano Berio). In den achtziger Jahren erhielt er mehrere renommierte Preise, und seine Werke, welche die verschiedensten Gattungen umfassen, werden heute weltweit aufgeführt. Er arbeitet als Dirigent mit bekannten Ensembles der Neuen Musik zusammen (z.B. InterContemporain, Modern, Contrechamps, IRCAM, London Sinfonietta) und unterrichtet Komposition am Konservatorium von Mailand. Mit «Niccolò» ist Paganini gemeint – jener Teufelsgeiger, um den offenbar auch ein moderner Quartettkomponist nicht herumkommt. Zwar will das Werk abstrakt sein und in der grossen Quartett- und Geigentradition stehen. Wichtiger ist Francesconi aber, dass es seine Energie aus dem Dionysischen und aus der Volksmusik gewinnt. Es werden Fragmente aus der Musik Paganinis und das Streicherintervall «an sich», die Quinte, verarbeitet – das Stück verbirgt aber seinen wirklichen Kern und seine Logik vor dem Komponisten. Das Stück will auch «erzählen». Der Komponist versucht durch Kratzen, Meisseln, Befragen dieses Potential an die Oberfläche zu bringen, Verbindungen herzustellen und Ordnung zu schaffen. Erstmals unterteilt Francesconi eines seiner Werke in einzelne Sätze. Alle Elemente des Werks sind im ersten Satz bereits vorhanden: vom Geräusch gleichsam elektronischer Komponenten hin zu zigeunerhaften Bogenführungen mit ihrer wilden Energie genauso wie ein mondhaftes Pizzicato-Ritual in höchster Lage und kreisförmige Objekte, welche ständig zwischen Abstraktem und scheinbar Bekanntem hin und her oszillieren. Letztgenannte formen den 2. Satz, das Pizzicato den dritten und das wilde energiegeladene Ritual den atemlosen Schlussatz. Beziehungen zu bekannter Musik sieht Francesconi am ehesten zum 4. Streichquartett Bartóks, eines seiner Lieblingskomponisten. Dies ist für ihn aber nicht wichtig; ihm geht es darum, was wir, die wir eine Synthese sind von allem, was früher war, hier und jetzt hören. Das Quartett wurde am 26. Oktober im Rahmen der «Paganiniana 2005» in Genua vom Arditti Quartet uraufgeführt. (In Anlehnung an einen englischen Text von Francesconi)
rs