Camillo Radicke erhielt seine musikalische Ausbildung in seiner Heimatstadt Dresden. Seit dem Gewinn der internationalen Klavierwettbewerbe von Palma de Mallorca (Chopin) 1990, Athen (Maria Callas) 1992 und Vercelli (G. B. Viotti) 1992, führt ihn eine umfangreiche Konzerttätigkeit als Solist und Kammermusiker in zahlreiche Länder Europas, in den Nahen Osten, nach Kuba, Südamerika, Japan und Korea. Er gastierte bei zahlreichen internationalen Festivals (Salzburger Festspiele, Klavierfestival Ruhr, Beethoven Fest Bonn, Haydn Festspiele Eisenstadt, Dresdner Musikfestspiele, MDR – Musiksommer, Schubertiade Schwarzenberg etc.). Als Liedpianist arbeitete er mit Sängerinnen und Sängern wie Peter Schreier, Olaf Bär (u.a. in Basel), Juliane Banse oder René Pape zusammen.
Das Programm gibt anhand meist wenig bekannter Lieder bekannter Komponisten einen Überblick über das deutsche Liedschaffen der zweiten Hälfte des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts. So lässt sich die Entwicklung in der späteren Romantik bis hin zum Kippen in die Moderne nachvollziehen. Und weil es nicht Ohrwürmer sind, an die man längst gewohnt ist, wird man vermehrt mit offenen Ohren und besonderer Aufmerksamkeit zuhören.
Aus Schumanns Liedschaffen kommen einem zuerst die Liedzyklen des Jahres 1840 (op. 39, 42, 24 und 48) in den Sinn, dazu einige berühmte Einzellieder. Bei Schumanns Spätwerk fällt der Bekanntheitsgrad stark ab. Trotz dem Einsatz bedeutender Musiker wie Heinz Holliger leidet es noch immer unter dem Vorurteil, es sei weniger bedeutend, ein Abglanz des früheren Schaffens und von Schumanns psychischen Problemen geprägt. Anhand des späten, selten zu hörenden op. 107 lässt sich dies bestätigen oder hoffentlich widerlegen. Die sechs Gesänge sind weitgehend 1851 entstanden und 1852 erschienen. 1850 hatten die Schumanns Dresden verlassen, da Robert die Stelle des Städtischen Musikdirektors in Düsseldorf angenommen hatte. Nach anfänglicher Zufriedenheit und Erfolgen stellten sich bald Probleme ein. „Verstimmungen und Umstimmungen“ schrieb Robert in sein Tagebuch. Dazu passt das im Januar 1851 komponierte Herzeleid, dessen resignative Stimmung das Unheil vorwegzunehmen und das (Vor-)Urteil zu bestätigen scheint. Auch Die Fensterscheibe mit der Parallele von gebrochenem Glas und Herzen bringt zuletzt keine heitere Stimmung. Eine Reise auf dem Rhein und via Basel durch die Schweiz sollte im Sommer 1851 den Sorgen Abhilfe schaffen. Nach der Rückkehr schrieb Robert im August weitere Lieder. Den Gärtner kennt man besser in der „ungleich treffsichereren“ (D. Fischer-Dieskau) Vertonung Wolfs, dem Schumanns Fassung bekannt war. Schumanns Reiterin wirkt elegant und vorsichtig, nicht heiter und charmant wie bei Wolf. In der Spinnerin – man denkt an Schubert, im Klavier an Mendelssohn – kehrt am Schluss im ritardando die Resignation zurück. Die von Schumann als Wanderlied gestaltete Nr. 5 stellt das Leid des Alleinseins ins Zentrum. Abendlied lässt mit ruhevoller Abendstimmung leise Zuversicht aufkommen; es weist auf Brahms und Wolf vorweg, doch auch zurück auf Lieder des Jahres 1840.
Wenig bekannt ist auch das 1877 erschienene op. 70 von Brahms mit vier leisen Liedern (nur einmal forte in einem Klaviersolo des ersten Lieds). Hier sind es die beiden mittleren, die besonders interessieren. Lerchengesang zeigt Brahms von der feinen, doch expressiven Seite; Vorspiel und Nachspiel sind klanglich besonders reizvoll. Die Singstimme mit ihren Triolen hat bei ihrem Einsatz und in der zweiten Strophe gleich zweimal einen Takt unbegleitet zu singen. Die graziöse Serenade (Vortragsvorschrift grazioso) mit verspielten Klavierfiguren zeigt einen heiter-hellen Brahms. Von den sechs ausgewählten Liedern ist die Eichendorffvertonung das einzige frühe. Bei aller Liedkunst von Brahms, mit Schumanns Vertonung op. 39/1 kann sie sich nicht messen. Brahms hat den Text nicht direkt Eichendorff entnommen, sondern bei Schumann mit dessen Änderungen entlehnt. Zu Recht berühmt ist die wunderbar ruhige, die Melodiebögen auskostende Sapphische Ode (Ziemlich langsam), die sich musikalisch dem antiken Versrhythmus angleicht, durch Klaviersynkopen allerdings eine Gegenbewegung erhält: eines der schönsten Lieder von Brahms. Brahms’ Freundin Elisabeth von HerzogenBerg vermisste in den Liedern des op. 105 zwar das „wärmste Herzblut“. Wie Melodien zieht es mir ist gleichwohl eines der bekanntesten, mag es auch leicht sentimental klingen. Heyses Mädchenlied benutzt den gleichen Text wie Die Spinnerin, doch hat Schumann auch hier Änderungen vorgenommen. Hier lassen sich also die beiden Komponisten vergleichen. Brahms verzichtet auf lautmalerische Spinnradfigurationen. Schlicht ist die zweite Grothe-Vertonung, ein Strophenlied mit ganz anderer dritter und variierter Schlussstrophe.
Nach der Pause der Übergang zur Musik des 20. Jahrhunderts. Beide Komponisten schrieben zunächst hauptsächlich Lieder. Zu Mahlers frühesten Kompositionen gehören Frühlingsmorgen und Serenade. Die beiden zuerst gesungenen zeigen ein Hauptmotiv Mahlers, die Beziehung des Menschen zur Natur und sein Aufgehen darin. Die Don Juan-Serenade ist eher ein Aussenseiter. Während Ich ging... zur ersten Gruppe von neun Wunderhorn-Liedern gehört, stammen die beiden letzten Lieder aus der späteren bekannten, auch orchestrierten Gruppe von Wunderhorn-Liedern. (Die originalen Klavierfassungen wurden erst 1993 von Renate Hilmar-Voit und Thomas Hampson herausgegeben.) In den beiden heiteren Liedern überwiegt unschuldig-naives Herangehen an die Texte. So kommt im volksliedhaften „Rheinlegendchen“ nicht zum Ausdruck, dass ursprünglich eine politische Allegorie dahinter steckt. Das Unheimliche oder Groteske anderer Wunderhorn-Lieder fehlt. Gleichwohl ist der Mahlerton unverkennbar. Witzig sind beim letzten Lied die dissonanten Klavierbässe bei „und wer das Liedlein nicht singen kann“.
Alban Berg hat in den Jahren 1900 bis 1908 gegen 150 Lieder komponiert. Davon sind noch längst nicht alle veröffentlicht, manche verschollen. Die meisten hat der junge Mann, ohne Kompositionsunterricht genossen zu haben, in Anlehnung an Brahms und Strauss geschrieben. Er führte sie mit seinen Geschwistern, vor allem mit der Schwester Smaragda, privat auf. Sechs dieser Lieder legte sein Bruder Charly auf Anregung Smaragdas im Oktober 1904 Schönberg vor, der per Anzeige privaten Kompositionsunterricht ausgeschrieben hatte – und der war so angetan, dass er Berg als Privatschüler annahm. Nach 2½ Jahren strengen Studien in Kontrapunkt und Theorie durften die Schüler, zu denen auch Webern gehörte, selber komponieren. Nachdem Die Nachtigall bereits 1905 beim ersten öffentlichen Auftritt mit seiner Schwester in einem Heim für Witwen und Waisen erklungen war, gab Berg am 7. November 1907 bei einem Konzert der Schönbergschüler im Beisein von Alma Mahler und Zemlinsky sein offizielles Debüt als Komponist und Interpret mit einer Doppelfuge für Streichquartett und Klavier und mit Liebesode, Die Nachtigall und Traumgekrönt. Obwohl er Die Nachtigall für das schwächste hielt (es ist wohl auch das früheste) und Traumgekrönt bei weitem den Vorzug gab, hatte es am meisten Erfolg. Erst 1928 hat er die auf sieben erweiterten Lieder revidiert und orchestriert, sie bei der Universal Edition in beiden Fassungen herausgegeben und damit ihren Wert anerkannt. In ihnen wird, mögen sie auch noch in der Tradition stehen, langsam die Abwendung von der klassischen Tonalität spürbar, am fortschrittlichsten in Nacht, die an den Beginn von Bartóks Herzog Blaubarts Burg (1911) erinnert. Den Schluss mit schwungvoller Emphase bildet Sommertage auf einen Text von Bergs Schulkamerad Paul Hohenberg, der für ihn in der Schule auch Aufsätze geschrieben hat.
rs